Atem Ton Ruhe
Herbst. In der Nähe der ehemaligen japanischen Hauptstadt Nara, ein Garten mit rundgeschnittenen sattgrünen Teebüschen. Das Haus von Matsumoto-san, eines Kalligraphen, steht in in dieser wilden Umgebung. Oben im Dachstock, mit Blick auf die Szenerie draussen, ein Europäer, die Bambusflöte Shakuhachi blasend.
Eine Schlüsselszene meines Shakuhachilebens. In dieser japanischen Bilderbuchlandschaft zu sitzen, Shakuhachi zu blasen und mich zu wundern, wie es so gekommen ist.
Die erste Begegnung. An einem Konzert meines späteren Lehrers Dr. Andreas Gutzwiller, wurde ich mit einer sensationellen, wahrhaft unerhörten Klangwelt in Berührung gebracht, die äusserst fremd, für meine Ohren unverständlich, aber dafür ungemein reich an klanglichen Farben und Schattierungen war. Das Zeitgefühl in dieser Musik schien mir sehr verschieden im Vergleich zu unserer Rhythmusauffassung zu sein. Kaum ein durchgehendes Pulsieren, viel eher ein immer wieder beginnendes Anspannen und wieder Auflösen der musikalischen Zeit. Der sehr zeitgenössisch wirkende Klang der Shakuhachi kann sehr zart und beinahe unhörbar sein und bis zu einem harten, sehr urtümlichen, geräuschhaften Röhren anschwellen. Zwischen den einzelnen Tönen, die sich differenziert entfalten und bewegen, werden filigrane Verbindungen hörbar, die etwas ganz Wesentliches dieser Musik auszumachen scheinen. Die Musik entzog sich vollkommen meinem Verständnis, hatte mich aber im Innersten berührt.
Die ersten Unterrichtsstunden, die ich kurz nach dieser ersten eindrücklichen Begegnung erhielt, waren noch voller Erwartung, was da Fremdes und Exotisches auf mich zukommen würde. Der Unterricht verlief sehr anders als meine bisherigen Musikstunden. Einmal pro Woche wurde in einer Gruppe nur ein einziger Ton eine volle Stunde lang geübt; langsames Einatmen und klingendes Ausatmen in die Flöte. Der ergänzende Einzelunterricht war bestimmt durch das Bestreben, den Meister nachzuahmen. Meister und Schüler sitzen sich kniend gegenüber. Mit Worten erklärt wird nicht viel, gespielt wird immer gemeinsam. Das Lernen erfolgt durch offenes Zusehen, Zuhören und durch das Imitieren des Vorgespielten. Ein harter Weg, da am Anfang kaum ein Ton auf diesem Rohr zu erzeugen ist! Die Stücke sind mit japanischen Silbenschriftzeichen notiert, die nur andeutungsweise wiedergeben, was erklingt. Diese Notation ist somit in erster Linie Erinnerungshilfe des Gelernten und nicht eine exakt notierte Spielanweisung. Das Bestreben des Schülers besteht im sorgfältigen und möglichst genauen Nachspielen des Spielens des Meisters. Das Gehör des Schülers wird dadurch immer feiner und differenzierungsfähiger, die Feinheiten des Spiels werden immer deutlicher erkennbar. Dieses Imitieren des Lehrers mag für uns individualistisch denkenden Europäer sehr unkreativ und unfrei erscheinen, hat aber unverkennbare Vorteile. Der Schüler, welcher am Anfang steht, lernt zuerst durch das Nachspielen die in der Tradition stehende Art und Weise des Shakuhachispiels. Er imitiert vielleicht nur und erhört und erfühlt die musikalischen Zusammenhänge noch nicht. Im Wiederholen der Stücke, im vertraut werden mit dem für eine Schule charakteristischen Stil offenbart sich mit der Zeit eine Art Sinnzusammenhang der einzelnen Töne. Diese Art des Lernens ist vergleichbar mit dem kindlichen Erlernen einer Sprache, wo sich die Lautfolgen auch erst allmählich mit Bedeutung füllen. Die Tradition, geschaffen durch Generationen von Spielern, wird so direkt und ohne viele Erklärungen und theoretischen Erläuterungen durch praktisches Tun vermittelt. Der Schüler nimmt nur soviel auf, wie er in seinem momentanen Ausbildungsstand aufzunehmen bereit ist; er wird nicht mit Dingen beschäftigt, die er noch nicht nachvollziehen kann. Der Meister spielt in jeder Phase des Unterrichts so sorgfältig und differenziert wie möglich, ob er einen Anfänger oder einen Meisterschüler unterrichtet. So werden viele feine Details schon sehr früh aufgenommen, ohne dass diese bewusst wahrgenommen oder reproduziert werden können. Eine überlieferte Aussage mag dies verdeutlichen: "Der Anfänger muss zunächst die Technik des Shakuhachispiels üben. Wenn er die Technik beherrscht, muss er in den Geist der Musik eindringen. Die Meisterschaft liegt nicht in der Beherrschung der Technik sondern im Eindringen in den Geist der Musik. Das Eindringen in den Geist der Musik aber liegt innerhalb der Beherrschung der Technik. Wer die Technik nicht beherrscht, wird in den Geist der Musik nicht eindringen. Wer sich als Anfänger um den Geist der Musik kümmert, wird sein Leben lang ein Theoretiker des Bambuswegs sein. Darin besteht kein Zweifel." (aus; Hitori Kotoba von Hisamatsu Fûyô, ca. 1830. in: Gutzwiller. Die Shakuhachi der Kinko-Schule, Bärenreiter1983, vergriffen)
Eine weitere Überlegung. Das Bestreben ist, möglichst den Vorgaben des Lehrers, den ich mir ausgesucht habe und dem ich meine Ausbildung anvertraue, zu folgen. Die Individualität, die mich von ihm unterscheidet ist sowieso da und wird auch nicht abgelehnt, nur steht sie nicht im Zentrum der Beachtung. So ist die Aufmerksamkeit mehr auf das Übernehmen der Tradition gerichtet und weniger auf die Originalität des Spielers. Die Besonderheit jedes einzelnen Spielers bildet sich von selbst, natürlich wachsend, aus. Dazu aus dem gleichen Monolog über Shakuhachi:" Es gibt viele, die, wenn sie die Stücke lernen, nur daran denken, die äussere Form auswendig zu lernen. Dies ist im Höchsten Grade ein Missverständnis! Meri-Kari (Anm.: eine besondere Art der Tonhöhenveränderung durch Kopfbewegung) und die richtige Zeitstruktur, dies ist die Essenz, und jemand, der in dieser Erkenntnis spielt, nachdem er die äussere Form gelernt hat, der ist ein guter Spieler. Ein Anfänger oder ein Spieler mittleren Grades ist dazu unter keinen Umständen in der Lage. Für diese ist das wichtigste, dass sie in allem den Lehrer nachahmen. Deswegen ist die Wahl des Lehrers von grundlegender Bedeutung. Man darf dabei nicht unvorsichtig sein! (aus: Gutzwiller s.o.). In einem anderen Lehrgespräch (Hitori Mondo von Hisamatsu Fûyô, 1823, in Gutzwiller) lautet die Antwort auf die Frage, ob von der Notation (von der Überlieferung) abgewichen werden kann: "Ich weiche nicht ab, aber mein Spielen ist sehr verschieden von dem anderer. Zum Beispiel: Du bist ein Mensch und ich bin ein Mensch. Dein Körper, deine Haare, deine inneren Organe sind die wie die anderer Menschen und doch bist du sehr verschieden von anderen. Also: denke selbst nach über den Unterschied zwischen Abweichen von Notation und nicht Abweichen!"
Die Musik der Shakuhachi ist in zwei grundlegend verschiedene Sparten aufgeteilt: Die sogenannten Honkyoku und die Sankyoku oder Gaikyoku. Bei den Honkyoku handelt es sich um Stücke, die sich auf die meditative Praxis des "suizen" (blasende Meditation) berufen. Die Gaikyoku könnte man als japanische Kammermusik bezeichnen, in welcher die Shakuhachi als eines der drei Instrumente in einem Ensemble gespielt wird (Koto, Shamisen, Shakuhachi und Gesang). Für mich waren und sind die Honkyoku von besonderem Interesse, unterscheiden sich diese Stücke doch sehr von unserer westlichen traditionellen Musik. Einen nicht zu unterschätzende Wirkung hatte diese Art der Musik auf die neue westliche Musik, vor allem durch den Einbezug typischer Elemente der Shakuhachimusik (Timing, geräuschhafter Klang, Behandlung der Melodie) in neuere Kompositionen von japanischen Komponisten.
Die im Grunde genommen einfachen Melodien der Honkyoku, die durchaus aus der Volksmusik entnommen sein könnten, erfuhren, so eine Vermutung meinerseits, durch die Praxis des Meditierens eine sehr starke Verlangsamung. Es ging nicht darum, eine Melodie möglichst rasch zu spielen, sondern um das klingende Ausatmen während der Übung des Sitzens. Durch dieses Dehnen der Töne wird die Bedeutung des einzelnen Tones und die der Verbindung zwischen den Tönen enorm gesteigert. Jeder Ton bekommt einen definierten Anfang, einen Verlauf und eine Endung oder Weiterführung. Die eigentliche Melodie verliert an Wichtigkeit, zerfällt in differenziert gestaltete Motive. In den verschiedenen Stilrichtungen der Shakuhachitradition, den sogenannten "Ryû", werden genau diese Feinheiten der Tonverbindung, des Tonanfangs und -endes sehr unterschiedlich ausgeführt. Die den Stücken zugrunde liegenden Melodien scheinen sehr ähnlich zu sein, lassen sich wahrscheinlich auch auf eine gemeinsame ursprüngliche Melodie zurückführen, die Ausprägung der erwähnten Feinheiten in den Ryû ist so unterschiedlich, dass der Kenner nach einem Motiv die Herkunft und die Schulung des Spielers erkennen kann. Es wird gesagt, dass sich in den Zeiten der kämpferischen Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Sekten schon wenige Töne eines herannahenden Shakuhachispielers ausgereicht haben, um diesen als Freund oder Feind zu identifizieren.
Die Legenden über die Herkunft des Instrumentes und den Ursprung der Stücke sind reich und auch für den westlichen Leser zugänglich gemacht worden. (->Literaturhinweise ). Was bewegt aber heutige Menschen, dieses schwer zugängliche Instrument und dessen Musik erlernen zu wollen? Ich kann nur sehr subjektiv aus meiner eigenen Erfahrung und aus der meiner Schüler versuchen, Antworten zu skizzieren.
Als unmittelbarer Antrieb wirkt der sehr urtümlich berührende Klang, der mit dem eigenen Atem zum Leben gebracht wird. Dieser Klang lässt etwas urmusikalisches mitschwingen, das über alle kulturellen Unterschiede weg gemeinsam zu sein scheint. Klingender Bambus-Atem; beides, der Atem und der Bambus, sind hörbar als Teil der Natur.
Die erwähnte Langsamkeit der Musik lässt Raum, zuzuhören und sich in den Klang zu vertiefen. Die Musik wirkt ruhig, nahe bei der Stille. Als Spieler bedingt diese Langsamkeit, diese Ruhe, Konzentration und Präsenz, um diese "lange Zeit" inhaltlich zu füllen. Es ist unbarmherzig spürbar und hörbar, wenn ein Spieler nicht "bei der Sache" ist. Es kommt auch vor, dass dann gar kein Ton mehr kommt. Dieses "bei der Sache sein" bedeutet aber nicht ein verkrampftes "Richtig-machen-Wollen" sondern eher ein gelassenes Annehmen des momentanen Zustandes, in dem man sich gerade befindet und ein Gewährenlassen des Atems. Die legendäre Schwierigkeiten, einen guten Ton zu erzeugen (die Überlieferungen berichten von sieben Jahren) werden schon ganz am Anfang bewusst und müssen als solche erkannt und anerkannt werden. Das Instrument lockt nicht mit einem schnellen Zugang, sondern ist vielmehr ein Werkzeug, welches in erster Linie eine Arbeit an und mit sich selbst fordert. (Jedes westliche Instrument fordert diese Auseinandersetzung selbstverständlich auch. Nur werden diese Aspekte der Arbeit erst verhältnismässig spät im Unterricht thematisiert, der hörbare Erfolg steht lange Zeit im Vordergrund). So empfinde ich die Shakuhachi als Spiegel meiner Befindlichkeit, meiner Stimmungen und Bemühungen, der sich nicht täuschen lässt. Das Instrument zeigt hörbar deutlich und unmittelbar, wo ich zu arbeiten habe.
Das Üben der Shakuhachi ist für mich ein Weg, den ich seit sechzehn Jahren begehe, auf dem ich immer wieder Fragen und Zweifeln begegne, den weiter zu verfolgen mich immer wieder herausfordert und mich zur Auseinandersetzung zwingt mit mir als Musiker, mit der Musik und vor allem mit der Spannung, die ein europäischer Mensch mit all seinen Erfahrungen, Ausbildungen und kulturellen Wurzeln erfährt, wenn eine andere Kultur tiefe Spuren hinterlässt. Der mir aber auch erfüllende Momente schenkt und mir ermöglicht, wenigstens ansatzweise eine andere Kultur, eine andere Auffassung von Musik zu erfahren. Der mich auch dazu geleitet hat immer wieder nach Japan zu reisen und in einem Garten oder Tempel zu sitzen und die Shakuhachi zu blasen.